Wachet!
Wachet! Markus 13, 37 – Monatsspruch für März 2020
Friedhelm Hans, Pfarrer, Landau/Pfalz, Johanneskirche
Wachsein, die Zeichen der Zeit erkennen, diese Haltung ist positiv besetzt. „Allzeit bereit“ lautet der Wahlspruch der Pfadfinder. Wer wach ist, vermag blitzschnell bei veränderter Lage zu reagieren. Mitunter erweisen sich überkommene Verhaltensregeln als untauglich. Beim wachsamen Menschen steht alles auf dem Prüfstand. „Prüft aber alles, und das Gute behaltet.“ So lautet der Rat des Apostels an die junge Gemeinde.
Das Gegenteil vom Wachen ist der Schlaf. Den brauchen wir wohl zur Erholung und Bewahrung unserer Gesundheit. Das Schlafen und die Schläfrigkeit sind dagegen negativ besetzt. Die sinne sind eingetrübt, reaktionsschnelles Handeln wird unmöglich. Wer verschläft und zu spät aufsteht, verpasst den Zug. In großen Dingen und im Extremfall gilt der Kommentar Michail Gorbatschows: „Das Leben verlangt mutige Entscheidungen. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“
Die allgemeine Wachsamkeit dieser Tage ist auf das Corona-Virus gerichtet. Bis das Ausmaß dieser Seuche auch vom letzten leichtsinnig-schläfrigen Zeitgenossen begriffen wird, braucht es seine Zeit. Die Wachen müssen die Schläfrigen mitschleppen und aufwecken. Doch der Virus ist nicht alles. In der Krisenregion Idlib wird ein Volk zermahlen. Flüchtlinge drängen sich in den Auffanglagern und werden in der griechisch-türkischen Grenzregion zum Opfer einer verbrecherischen Politik. Am Hunger in Afrika und der Entrechtung der Ureinwohner auf Papua-Neuguinea ändert sich nichts. Die „Tafeln“ schließen und die Armen müssen sehen, wo sie bleiben. Hamsterer plündern ohne Rücksicht und Verstand die Läden – Unvernunft und Egoismus erscheinen als Variante der Schläfrigkeit. Wir erleben viele kleine America Firsts mit der Cowboy-Mentalität eines Trump oder dem Zarismus eines Putin. Als Schüler lachten wir über ein Bonmot: „Erst komme ich und dann lange nichts und dann komme wieder ich.“ Wachsein in Krisenzeiten sieht anders aus. Da braucht es andere Regeln. Wenn die in ihren Wohnungen eingesperrten Italiener anfangen zu singen, sieht es wieder anders aus, Zeichen einer Menschlichkeit und Lebensfreude im Angesicht der Krise.
Wer wacht, sieht sich um blickt vor allem nach vorn und zur Seite, sieht sich aber auch um und lässt den Blick nach hinten nicht völlig aus. Der Blick nach vorn meint u.a. die Suche nach einer Lösung und sachgerechten Haltung in der Krise. Hören wir auf die Ärzte und nicht auf die Horoskope. Christen folgen gemäß Römer 13,1 den Anordnungen der Behörden: „Jedermann sei untertan der Obrigkeit.“ Aber sie geben den Verstand nicht auf. Sie bleiben wach. Wenn die Regierung Versammlungen in Kirchen usw. untersagt, hat sie längst nicht Gottesdienste generell untersagt. Sie will eine Seuche eindämmen und nicht die Verkündigung unterbinden. Die Pfarrer predigen weiter – im Freien, schriftlich, im Internet. Das Evangelium muss genauso dringend gesucht werden wie der Impfstoff. „Ora et labora!“ „Bete und arbeite!“ lautet der Wahlspruch des Benedikt von Nursia. Der geht in dieselbe Richtung wie der Wahlspruch der Pfadfinder.
Wache Leute blicken zur Seite. Sie erkennen den Mitmenschen, den man im Deutschen anfangs noch als den Neben-Menschen bezeichnet hat. Der Mensch nebenan, darauf hat Christus schon immer hingewiesen. Der Nächste ist der, der gerade nebenansteht. Das sind ohne Unterschied Familie, Verwandte, Freunde, Nachbarn, Gemeindeglieder, Gäste und in der heutigen Welt alle Völker. Johann Gottfried Herder, der Weimarer Dichter-Pfarrer, hat den Begriff des Volksliedes geprägt. Sein Menschheitsideal war auf „Bildung der Humanität gerichtet“. Vernunft und Freiheit hielt er für Produkte der „natürlichen“ ursprünglichen Sprache, Religion für den höchsten Ausdruck der Humanität. Die Völker seien „verschieden, aber dennoch gleichwertig“. Heimatliebe ist alles andere als provinziell, wenn sie den Nachbarn im Horizont behält und achtet. Herder beantwortete die Frage „Was ist eine Nation“ so: „Ein großer, ungejäteter Garten voll Kraut und Unkraut. Wer wollte sich dieses Sammelplatzes von Torheiten und Fehlern sowie von Vortrefflichkeiten und Tugenden ohne Unterscheidung annehmen und...gegen andre Nationen den Speer brechen?... Offenbar ist die Anlage der Natur, daß wie Ein Mensch, so auch Ein Geschlecht, also auch Ein Volk von und mit dem anderen lerne...bis alle endlich die schwere Lektion gefaßt haben: kein Volk ist ein von Gott einzig auserwähltes Volk der Erde; die Wahrheit müsse von allen gesucht, der Garten des gemeinen Besten von allen gebauet werden.“
Auf diesem wachen und gebildeten Herder-Geist beruht die Arbeit der Hilfskomitees und Landsmannschaften im Andenken an eine verlorene Heimat. Bei einem Donauschwaben und einem Ostpreußen, inzwischen sind beide verstorben, lernte ich, dass der Blick in die Vergangenheit eine Hilfe zum Brückenschlag in die Zukunft sein muss: So entsteht Friede, so wächst Freundschaft: beide engagierten sich sozial in ihren Geburtsorten. Sie haben Fortbildung von Erzieherinnen vermittelt oder armen Familien unter die Arme gegriffen. Der Ostpreuße stammte aus der Nähe von Mohrungen, dem Geburtsort Herders, benachbart übrigens zu Kwittainen, dem Stammsitz der Gräfin Marion von Dönhoff. Beide haben in ihrer alten Heimat heute wieder einen klingenden Namen – dank einer klugen und wachen Politik, die die Vergangenheit nicht vergisst und zugleich auf Versöhnung und Entwicklung ausgerichtet ist. Das Hilfskomitee lässt alte Friedhöfe wiederaufrichten. Versöhnung über den Gräbern und Erinnerung an die Vorfahren gehören zusammen. Lehrer kommen zum Austausch nach Deutschland oder führen uns durchs Land. Wer wach ist, vergisst nicht und sieht dennoch um sich und erkennt auch den Weg in die Zukunft.
Jenseits der Krise – diese Perspektive hatte Jesus Christus im Sinn, als er seine Zeit kommen sah. „Ihr wisst nicht, wann die Zeit da ist“ und dachte an den Hausherrn, der auf Reisen ging und dem Türhüter sein Eigentum überließ. Der Herr aber kann jederzeit heimkommen und will seine Jünger nicht schlafend vorfinden. Christen sollten daran denken und getrost noch ein Stück weiter blicken: Der Herr kommt. Gott überlässt die Welt nicht einfach sich selbst. Sein Plan lautet Erlösung und Versöhnung. Der wache Blick auf Christus verstärkt den wachen Blick in die Not der Zeit, in unserem Land und dort auch, wo der Unfriede regiert. Dagegen aufzustehen bleibt das Gebot auch dieser Stunde.
EG 347
Ach bleib mit deiner Gnade bei uns, Herr Jesu Christ,
dass uns hinfort nicht schade des bösen Feindes List.
2. Ach bleib mit deinem Worte bei uns, Erlöser wert,
dass uns sei hier und dorte dein Güt und Heil beschert.
3. Ach bleib mit deinem Glanze bei uns, du wertes Licht;
dein Wahrheit uns umschanze, damit wir irren nicht.
4. Ach bleib mit deinem Segen bei uns, du reicher Herr;
dein Gnad und alls Vermögen in uns reichlich vermehr.
5. Ach bleib mit deinem Schutze bei uns, du starker Held,
dass uns der Feind nicht trutze noch fäll die böse Welt.
6. Ach bleib mit deiner Treue bei uns, mein Herr und Gott;
Beständigkeit verleihe, hilf uns aus aller Not.